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Pfarrehepaar über das Leben mit Multipler Sklerose

Daniel und Seraina Hintermann vor ihrem Haus in Schöftland. Bild: Nicolas Blust

Seraina Hintermann aus Schöftland hat seit über 20 Jahren MS. Zusammen mit ihrem Ehemann Daniel spricht sie über den Umgang mit der Krankheit, wie sich ihre Beziehung dadurch verändert hat und über den Wunsch, zu sterben.

Es sollte eine schöne und entspannte Woche ohne Kinder werden. Seraina und Daniel Hintermann reisten 2001 nach Florenz in Italien, um ihre Rosenhochzeit zu feiern. Doch die Reise in die Toskana markierte den letzten Abschnitt ihres alten Lebens. In der Folge verwandelte sich ihr glückliches Dasein in einen Albtraum, der bis heute anhält.

Was war passiert? «Während unserer Ferien stürzte Seraina zwei Mal», sagt Ehemann Daniel 22 Jahre später. Zuerst dachten sie sich dabei nichts Schlimmes, ein Sturz beim Laufen ist an sich nichts Ungewöhnliches. Daniel hatte aber ein ungutes Gefühl und insistierte, dass seine Frau den Hausarzt aufsucht.

Dieser hatte gleich den Eindruck, dass Seraina ein neurologisches Problem haben könnte, und verwies sie ans Unispital Basel für weitere Abklärungen.

Die Schockdiagnose aus dem Nichts

Nach mehrtägigen Untersuchungen in Basel erhält sie schliesslich die Diagnose Multiple Sklerose – ein Schock für die dreifache Mutter. Ebenso schockierend ist für sie nachträglich, wie ihr die Hiobsbotschaft übermittelt wurde. Trocken und emotionslos, ohne Vorwarnung. Als sie das Unispital verliess, ging ihr ein Bibelvers durch den Kopf, erzählt sie: «Der Herr ist nahe denen, die zerbrochenen Herzens sind.» Dieser Erinnerung habe sie es zu verdanken, dass sie sich auf dem Heimweg nicht von einer Brücke stürzte.

Zu diesem Zeitpunkt wusste Seraina nicht genau, was die Diagnose bedeutet. «Der Hausarzt kam dann bei uns zu Hause vorbei und hat es uns erklärt», erinnert sich Ehemann Daniel. 

Was ist Multiple Sklerose
Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Krankheit des Zentralen Nervensystems. Dabei kommt es zu vielfachen Entzündungen in Gehirn und Rückenmark. Diese führen zur Zerstörung von Nervenfasern und vernarben diese.
Die Folge ist, dass Befehle und Reize des Gehirns verzögert oder gar nicht ankommen. Bewegungs- und Empfindungsstörungen sind die Folge, bis hin zu vollständigen Lähmungen. Die Erkrankung und Beschwerden variieren von Patientin zu Patient. Als Auslöser für die Entzündungen gilt eine Fehlfunktion des Immunsystems.

Seraina Hintermann leidet an der schlimmsten Form von Multipler Sklerose, die Krankheit verläuft primär progredient. Das heisst: Sie erlebt keine sogenannten Schübe. Die Gesundheit verschlechtert sich stetig, eine Besserung ist auch mit Medikamenten nicht möglich. Lediglich die Symptome können gelindert werden.

Sehprobleme und Lähmungen

Die drei Kinder des Ehepaars aus Schöftland hätten die Diagnose schnell verdaut, als ihnen klar wurde, dass ihre Mutter nicht sofort stirbt. Doch die ersten Folgen der Erkrankung liessen nicht lange auf sich warten: Sehprobleme und Lähmungen in den Beinen. Seit 2007 sitzt sie im Rollstuhl, mittlerweile ist sie beinahe vollständig gelähmt und kann kaum noch sprechen. «Die Krankheit ist brutal, sie nimmt einem viele Sachen weg», sagt sie.

Wie geht das Pfarrehepaar damit um? Der Glaube spielt eine zentrale Rolle. Doch dieser wird arg auf die Probe gestellt. «Unser Gottesbild hat sich verändert, wir lassen mehr Fragen und Zweifel zu», sagt Daniel Hintermann. Er und seine Frau hätten immer wieder gefragt, warum dieser Schicksalsschlag sie getroffen habe. Ihre Gebete, dass die Symptome sich abschwächen, seien unerhört geblieben.

Trotzdem habe sich ihr Glaube vertieft, auch dank der Kirchgemeinde. «Wir konnten innerhalb der Gemeinde über unser Schicksal sprechen und unser Leid teilen», sagt der Pfarrer von Schöftland. Er tut dies bei Besuchen, «wenn jemand nach meiner Frau oder unserem Umgang mit unseren Nöten fragt» und er tut es manchmal auch in seinen Gottesdiensten. Authentizität ist beiden wichtig: «Wenn wir über unsere Fragen und Zweifel sprechen, hilft dies vielleicht Menschen, auch nicht allein mit ihren Nöten zu bleiben.»

Dank grosser Flexibilität im Pfarramt und dank einem guten Einvernehmen im Schöftler Pfarrteam kann sich Daniel um seine Frau kümmern. Mittlerweile hat er sein Pensum auf 65 Prozent reduziert. Trotzdem braucht es ein Team von vier IV-Assistentinnen und wechselnden Spitex-Mitarbeiterinnen, die die Pflege seiner Frau daheim ermöglichen. «Seraina braucht inzwischen für alles Hilfe; ich kann sie nicht mehr lange allein lassen», sagt der Ehemann.

Der Wunsch, zu sterben

Die ständige Hilfsbedürftigkeit belastet Seraina Hintermann. «Ich habe mich lange dagegen gewehrt, die Kranke zu sein», sagt sie. Ihr Ehemann weiss, dass seine Frau nicht zur Last fallen möchte, aber stark abhängig von ihm ist. Dennoch würden sie versuchen, eine Beziehung auf Augenhöhe zu führen. Das sei schwieriger geworden, seit seine Frau kaum noch verständlich sprechen kann. Trotzdem habe sich ihre Beziehung durch die Krankheit, eine gemeinsame Last, vertieft.

Als Psychologin weiss Seraina Hintermann, dass Beziehungen durch Schicksalsschläge und Krisen auch stärker werden können. Als Logotherapeutin hatte sie gelernt, dass es keine Lebenssituation gibt, der man nicht noch einen Sinn abgewinnen kann. Die Logotherapie liefert eine sinnvolle Orientierung im Umgang mit den Herausforderungen, die das Leben stellt, und hat zum Ziel, den Sinn im Leben zu entdecken und zu verwirklichen. Das hilft ihr, nicht an ihrem Leiden zu zerbrechen.

Ihre Erfahrungen mit MS und wie sie mit dem Leid umgeht, hat Seraina Hintermann in einem Buch festgehalten. In Zusammenarbeit mit Co-Autorin Vera Schindler-Wunderlich entstand das Werk «Vogel ohne Flügel». Auf 150 Seiten erzählt Seraina aus ihrem Alltag und von ihrem Glauben. Mit dem Buch will sie Menschen in schwierigen Lebenssituationen helfen, das Beste aus ihrem Schicksal zu machen.

Sie erzählt darin auch von ihrem Wunsch, eines Morgens nicht mehr aufzuwachen und so das ganze Leid hinter sich zu lassen. Es ist ein Ringen mit Gott und mit sich selbst. Viel Kraft und Sinn gibt ihr dabei auch die Familie, der inzwischen neben drei Söhnen und ihren Partnerinnen auch drei Enkel angehören.

Der Titel des Buches «Vogel ohne Flügel» bezieht sich auf das gleichnamige Lied von Peter Reber, der die Verwendung des Titels gerne erlaubt hat. Diesen widmet Seraina ihrem Ehemann Daniel, der sie seit 32 Jahren begleitet. Im alten wie im neuen Leben.

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